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Es ist nicht zu beanstanden, wenn sich ein Fahrzeugführer dazu entschließt, eine längere Fahrzeugkolonne bei klarer Verkehrslage (bspw. bei gerader Strecke und keinen Anzeichen, dass ein vorausfahrendes Fahrzeug aus der Kolonne ebenfalls nach links ausscheren könnte) zu überholen. Allenfalls erhöht sich dadurch erst einmal nur die Betriebsgefahr des Überholenden, die sich der Überholende im Falle eine Unfalls mit einem aus der Kolonne ausscherenden Fahrzeug bei der Schadensregulierung gegebenenfalls anrechnen lassen muss. Ein Mitverschulden begründet die Tatsache, dass man sich dazu entschlossen hat, eine ganze Fahrzeugkolonne zu überholen, erst einmal nicht.
Entschließt sich nach Ansetzen zum Überholfahrgang dann auch ein vorausfahrender Fahrzeugführer aus der Fahrzeugkolonne dazu, mit seinem Fahrzeug nach links auszuscheren (bspw. um ebenfalls zu überholen oder nach links abzubiegen), so hat derjenige, der sich bereits zuvor dazu entschlossen hatte, die Fahrzeugkolonne zu überholen, und demnach bereits zum Überholvorgang angesetzt hat, Vorrang gegenüber dem nachträglich aus der Kolonne ausscherenden Fahrzeug. Dies gilt zumindest dann, wenn der Überholende zu Beginn des Überholvorganges noch nicht damit rechnen musste, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug ebenfalls nachlinks ausscheren wird/könnte.
Entschließt sich ein Fahrzeugführer also dazu, aus einer Fahrzeugkolonne nach links auszuscheren, trifft ihn zunächst eine entsprechende Rückschaupflicht, um vor dem Ausscherenfeststellen zu können, ob nicht bereits ein hinter ihm fahrendes Fahrzeug zum Überholvorgang angesetzt hat und sich bereits in der linken Spur befindet. Bei klarer Verkehrslage, bei der auch ein in der Fahrzeugkolonne befindlicher Fahrzeugführer nur zum Überholvorgang ansetzen darf (bspw. bei gerader Strecke), kann bei Befolgung der Rückschaupflicht in der Regel auch festgestellt werden, ob nicht bereits ein anderes Fahrzeug zum Überholen angesetzt hat und sich auf der linken Spur befindet.
Auch muss ein bei zunächst klarer Verkehrslage bereits begonnener Überholvorgang nicht abgebrochen werden, wenn sich während des Überholvorganges die Verkehrslage nachträglich dadurch ändert, dass sich ein in der Kolonne befindlicher Fahrzeugführer erst anschließend ebenso dazu entschließt, nach links auszuscheren, und dies sodann durch das Setzen des linken Blinkers ankündigt. Denn der Abbruch eines bereits begonnenen Überholvorganges kann unter Umständen gefährlicher sein, als dessen Fortsetzung, insbesondere, wenn ein gefahrenloses Wiedereinscheren nicht möglich ist. Mit den Worten des OLG Celle in Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung des BGH:
"Wer sich sehenden Auges in eine unklare Verkehrslage begibt, nimmt eine Gefährdung für sich und andere in Kauf. Dies gilt aber nicht für denjenigen, der erlaubterweise einen Überholvorgang beginnt und erst in dessen Verlauf mit Unklarheiten konfrontiert wird.
Wer ordnungsgemäß zum Überholen angesetzt hat, darf darauf vertrauen, dass sich kein vorausfahrender Fahrzeugführer verkehrswidrig verhält und vorschriftswidrig ausschert oder nach links abbiegt (vgl. BGH, Urteil vom 23.09.1986, VI ZR 46/85, Rn.12, juris; OLG Karlsruhe, Urteil vom 10. September 2018 – 1 U 155/17, Rn. 47,juris). Ihm steht der Vorrang gegenüber den Vorausfahrenden zu. Denn von mehreren hintereinander fahrenden Fahrzeugen hat dasjenige Vortritt beim Überholen, das zuerst korrekt hierzu ansetzt (BGH aaO; OLG Karlsruhe, Urteil vom 10. September 2018 – 1 U 155/17, Rn. 47, juris; sowie Urteil vom08.06.2001 - 10 U 77/01, Rn. 14, juris). Nichts anderes gilt im Fall einer Fahrzeugkolonne, wonach insbesondere der Versuch, in einem Zug zweivoranfahrende Personenkraftwagen zu überholen, nicht stets eine besonders gefahrenträchtige Fahrweise darstellt, die bei einer nach § 17 StVG zutreffenden Abwägung ins Gewicht fällt (BGH, Urteil vom 23. September 1986 – VIZR 46/85, Rn. 12)[...]"
Jedoch trifft denjenigen, der bei hoher Geschwindigkeit mehrere Kraftfahrzeuge überholt, ebenfalls eine erhöhte Sorgfaltspflicht, weil das Überholen einer ganzen Kolonne einen gefahrerhöhenden Umstand darstellt, der zu einer Mithaftung führt. Auch eine leichte Vermeidbarkeit des Unfalls kann zu Lasten desjenigen, der zuerst zum Überholvorgang angesetzt hat, trotz seiner Vorrangstellungberücksichtigt werden und sich anspruchsmindernd auswirken.